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Eine Tragödie der Zukunft
Die folgende Novelle ist rein fiktiv, falls sich Namen oder Handlungselemente mit Personen oder Ereignissen aus der echten Welt überschneiden ist dies reiner Zufall.
Eine Tragödie der Zukunft
Nachdem die beiden schon so lange und so viel miteinander geschrieben hatten, wartete Patrik nun
sehnsüchtig im Restaurant auf sie. Viel Zeit hatte er schon damit verbracht, sich in Gedanken
auszumalen, wie sie denn aussieht, denn obwohl sie einander schon so lange Nachrichten geschrieben
hatten, hatten sie keine Bilder von sich ausgetauscht.
Gleich war es soweit. Er hatte in einem beliebten Restaurant einen Tisch für zwei reserviert; sie
wollten sich um 19.30 Uhr dort treffen. Er blickte auf die Uhr: Es war 19.29 Uhr, und Patrik hatte schon
Angst, dass sie nicht kommt. Aber dann – genau um halb acht – kam eine junge Frau durch die
Tür. „Das muss sie sein“, dachte er sich. Sie schaute sich um, und ihr Blick blieb auf
dem Bildschirm mit der Tischnummer über Patriks Tisch stehen. Während sie durch das Labyrinth
der anderen Tische langsam zu ihm ging, sah Patrik sie voller Freude an und dachte, dass sie genauso
– nein, noch besser aussah, als er sie sich vorgestellt hatte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie endlich bei Patrik an. Auch ihr konnte man die Freude
über dieses erste Treffen deutlich ansehen. Sie setzte sich, beide schwiegen sich für eine
Weile an und sahen sich in die Augen. Patrik wusste nicht, was er sagen sollte und war froh, dass sie
anfing zu sprechen.
„Du musst Patrik sein! Außer ich bin auf irgendeinen Trick reingefallen.“ Sie
lachte.
„Ja, der bin ich! Und du bist hoffentlich auch Lya?“, fragte Patrik, ebenfalls lachend.
„Ja, ich bin Lya, ich finde es so schön, dich endlich mal in echt zu sehen.“
„Das finde ich auch. Ich habe mich schon die ganze Woche auf heute Abend gefreut!“
„Ich auch, es ist wirklich schön, dich so in natura und nicht nur in meinem Handy vor mir zu
haben.“
Die beiden unterhielten sich eine Zeit lang und es war als ob sie sich schon ewig kannten, was in
gewisser Hinsicht ja auch stimmte. Irgendwann fiel Patrik dann ein: „Wollen wir nicht auch langsam
etwas zu Essen bestellen?“ Lya antwortete lachend: „Ja, das hätte ich ja fast
vergessen!“. Beide tippten auf den im Tisch eingebauten Bildschirm, woraufhin die Karte erschien.
Sie scrollten etwas durch, und Lya fragte etwas unsicher:
„Was soll ich denn nehmen, was ist denn gut?“
„Nimm das was dir gefällt.“ Patrik lächelte.
„Ich weiß aber nicht was, was nimmst du denn?“, fragte Lya immer noch etwas
verunsichert.
„Mhh… Ich glaube, ich nehme die Nummer 12, Pasta. Nimm doch einfach irgendwas, was dich
anspricht.“
„Na schön“, sie scrollte noch etwas durch das Menü „Ich nehme die Nummer 42,
das vegane
Schnitzel.“
„Du bist Veganerin? Hast du nie erwähnt“, fragte er etwas verdutzt.
„Nein nein, bin ich nicht. Ich will es nur mal ausprobieren“, antwortete sie erneut etwas
verunsichert. Nicht lange nachdem sie über den Touchscreen bestellt hatten, kam schon ein Roboter,
eine
Bedienungs-KI, um ihnen das Essen zu bringen. In diesem Restaurant wurden Roboter als Bedienung benutzt,
denen man auch ansah, dass sie Roboter waren. Allerdings war die Technik schon so weit, dass einige
moderne KIs nicht mehr von einem realen Menschen zu unterscheiden waren.
Während des Essens fragte Patrik neugierig: „Wie schmeckt es dir, ist es gut?“
„Ja, es ist sehr gut. Möchtest du mal probieren?“ Patrik nickte. Sie schnitt ihm ein
Stück ab und führte ihre Gabel zu seinem Mund. Patrik schmeckte es zwar überhaupt nicht,
aber aus Höflichkeit sagte er: „Ah, ist nicht so gut, wie ein echtes Schnitzel, aber es ist
okay.“ Lya freute sich und lächelte ihn an.
Nicht ganz ein halbes Jahr später mieteten die beiden sich eine Wohnung und zogen endlich zusammen.
Auf diesen Tag hatte Patrik – und Lya natürlich auch – lange gewartet. Sie waren
überglücklich, dass sie diese Wohnung hatten und noch glücklicher, dass sie einander
hatten. Die Wohnung lag im zwölften Stock eines Gebäudes in einer sehr modernen und
futuristischen Stadt. Den beiden gefiel es, manchmal stundenlang vor der großen Fensterfront zu
sitzen und gemeinsam, Arm in Arm, die Stadt von oben zu beobachten. Die Autos auf den Straßen, die
fliegenden Taxis und die zahlreichen Drohnen, die Pakete, Briefe und sogar Pizza auslieferten. Über
ihrer Wohnung befand sich nur ein Büro, worüber die beiden glücklich waren, da dieses nur
tagsüber benutzt wurde und auch zu dieser Zeit sehr ruhig war. In dem Gebäude waren nur wenige
Wohnungen, wodurch die beiden ihre Nachbarn fast nie sahen, was sie aber nicht sonderlich störte.
Ihnen reichte ihre gegenseitige Gesellschaft. Lya arbeitete nicht viel und war daher oft alleine zu
Hause.
Eines Tages, als sie gerade Cello übte, kam Patrik nach Hause und hatte eine Überraschung
für sie. Sie hörte auf zu musizieren und sah, wie Patrik mit einem großen
Teddybären durch die Tür kam. Sie stand auf und fragte ganz aufgeregt: „Aww, der ist ja
toll, ist der für mich?“
„Ja, der ist damit du dich nicht immer so einsam fühlen musst, wenn ich nicht Zuhause
bin.“
Patrik hatte ein großes Lächeln im Gesicht, und Lya sprang auf und umarmte ihn. Der
Teddybär war fast genauso groß wie sie. Patrik hatte schon oft mit kleinen und auch
großen Gesten ausgedrückt, wie sehr ihm Lya am Herzen lag - genauso wie sie. Die beiden
liebten sich sehr.
Etwas später an dem Tag fragte Patrik sie während eines Gesprächs, ob sie nicht
vielleicht eine Helfer-KI für den Haushalt kaufen wollten. Das brachte Lya total aus der Fassung
und sie antwortete einfach nur: „Nein!“
„Wieso denn nicht? Das wäre doch eine große Hilfe.“
„Wir brauchen keine Hilfe im Haushalt! Und ich will so eine KI nicht!“
„Okay, war ja auch nur ein Vorschlag… Aber du hast recht, das ist schon echt gruselig,
wenn
man die nicht von einem echten Menschen unterscheiden kann und die sich auch genauso verhalten
wie Menschen.“
Lya nickte. So hatte Patrik sie bisher nur selten erlebt, aber wie immer vertrugen sie sich direkt nach
der Meinungsverschiedenheit wieder. Am Abend kuschelten sie sich zusammen, schauten noch kurz aus dem
Fenster, und dann drückte Lya auf eine Fernbedienung und aus dem durchsichtigen Fenster wurde ein
Bildschirm, auf dem sie ihre Lieblingsserie weiterschauten.
Am nächsten Morgen wachte Patrik auf und sah, wie Lya neben ihm saß und ein Buch las. Er
setzte sich auf und fragte: „Guten Morgen, was liest du?“, sie klappte das Buch etwas zu und
sagte:
„Projekt 66, ein ganz alter Sci-fi Roman. Interessant, wie man sich damals die jetzige Gegenwart
vorgestellt hat.“ Sie lachte.
„Oh ja, von wann ist der?“, fragte er, ebenfalls lachend.
„Anfang einundzwanzigstes Jahrhundert.“ Beide lachten, und sie las weiter. Patrik stand auf
und zog sich an. „Wollen wir noch gemeinsam frühstücken, bevor ich gehen muss?“,
fragte er, aber sie reagierte nicht. Er schnipste und sagte: „Hey“, und sie wurde nun sofort
aufmerksam, blickte von ihrem Buch auf und sagte: „Oh, ja, gerne, aber ich hab nicht so einen
Hunger.“ Sie stand aus dem Bett auf, und sie gingen zum Frühstückstisch, der direkt an
der Küchenzeile stand.
Nachdem Patrik weg war, las sie den ganzen Tag in dem Buch und kuschelte sich dabei in den großen
Teddy ein, der in einer Ecke des Raumes stand. Als Patrik dann am Abend nach Hause kam, war er
müde, und nach einem kurzen Abendessen gingen die beiden schon zu Bett.
In der Nacht wachte Patrik plötzlich auf, er wusste selbst nicht, warum. Lya schlief neben ihm tief
und fest. Er streichelte ihr durch die Haare. Plötzlich bemerkte er etwas. Etwas, was dort nicht
hingehörte. Er nahm sein Smartphone, faltete es auf und schaltete die Taschenlampe ein. Er
leuchtete auf ihren Hinterkopf und zog ihre Haare etwas zur Seite. Dort sah er etwas. Eine Plakette. Mit
einem Barcode. Und einem Logo mit der Aufschrift „ORB“. Da begriff er: „Sie ist gar
kein Mensch, sie ist eine KI, ein Roboter, der so aussieht wie ein Mensch.“ Er wusste nicht, ob er
schreien oder weinen sollte. Ihm flossen Tränen aus den Augen. Lya wachte auf und fragte:
„Hey, was ist denn los?“, sie wollte ihn umarmen, aber er schob sie von sich weg.
„Die ganze Zeit… Von Anfang an… Ich weiß es jetzt!“, schluchzte er.
„Was? Was ist denn los mein Schatz?“, sie wich etwas erschrocken zurück.
„Du bist eine KI, ein blöder Roboter, der mir alles nur vorgespielt hat! Ich hätte es
wissen müssen, du warst zu perfekt!“, aus dem Schluchzen wurde ein grimmiger Ton.
„Es stimmt, ich bin eine KI, aber meine Gefühle für dich sind echt! Ich habe dir nichts
vorgespielt!“, ihr liefen nun auch Tränen über die Wangen. Patrik wischte mit einer Hand
über ihre Tränen und schrie: „Alles Lügen! Selbst das Heulen spielst du mir vor!
Ich will dich nicht mehr sehen!“ Er nahm sein Smartphone, etwas zum Anziehen und sein Portmonee.
Er ging zur Tür. „Nein, bitte warte! Ich liebe dich!“, rief Lya ihm nach, aber es war
zu spät. Er hatte die Tür bereits hinter sich zugeknallt. Sie stellte sich ans Fenster und sah
zu, wie er unten aus dem Gebäude ging und in ein Taxi einstieg. Sie legte ihre Hand ans Fenster,
und das Taxi flog los. Sie weinte. Sie weinte die ganze Nacht, denn sie war zwar eine KI und ein
Roboter, aber sie hatte ein eigenes Bewusstsein und ihre Gefühle für Patrik waren echt. Sie
konnte diese nicht einfach löschen. Genauso echt wie ihre Gefühle war auch der Schmerz. Dass
Liebeskummer so schlimm sein kann, hatte sie nicht gewusst.
Am nächsten Morgen nahm sie sich auch ein Taxi und ließ sich zum Haus von Patriks Mutter
fliegen in der Hoffnung, dass er da wäre und dass sie mit ihm darüber reden könnte. Sie
kam beim Haus an, bemerkte, dass es langsam anfing zu tröpfeln und klingelte. Patrik machte auf,
und Lya liefen wieder die Tränen über ihr Gesicht: „Ich möchte mich
entsc…“ Patrik unterbrach sie: „Nein, das sollst du nicht, ich will dich nicht mehr
sehen! – Geh bitte einfach.“ Er knallte die Tür vor ihrer Nase zu und ließ sie
wortwörtlich im Regen stehen, aus dem Tröpfeln war mittlerweile ein Regenschauer geworden. Lya
drehte sich um und bemerkte, dass das Taxi schon wieder weg war. Sie ging zu Fuß durch den Regen,
den Weg entlang und hoffte, ein weiteres Taxi zu finden. Währenddessen schluchzte sie, und als sie
schließlich in ein neues Taxi einstieg, fragte der Fahrer, beziehungsweise der Pilot, was denn los
sei. Sie beruhigte sich etwas und bat ihn, einfach loszufliegen. Sie ging zurück in die Wohnung und
setzte sich in den großen Teddy, den Patrik ihr geschenkt hatte. Sie weinte.
Eine Novelle von Jan Mamay
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